Originalbericht:
NOV 2000
überarbeitet:
AUG 2019
Die vorliegenden Quellen widersprechen sich zum Teil. Daher sind einige der Jahresangaben nicht genau.
Bis zum Ausgang des 18. Jhdt. ist wenig über die Geschichte von Müang Sing bekannt. Eine Besiedlung der kleinen Flussebene des Nam Sing ist bereits für das Jahr 1792 nachweisbar. Damals zog die Witwe des verstorbenen Herrschers von Chiang Khaeng (s.weiter unten), Cao Surintha, mit Cao Saengsi, einem ihrer sechs Söhne, in die Ebene von Müang Sing, um sich dort mit ihren Gefolgsleuten niederzulassen. Der Grund für die Auswanderung waren Konflikte unter ihren Söhnen. Der erste Siedlungsort hieß Ban Nam Dai, ca 5 km südwestlich von der heutigen Stadt Müang Sing. Später wurde mitten in der Ebene eine umwallte "Stadt" errichtet: Wiang Fa Ya. Nach der Fertigstellung beider Siedlungsorte veranlaßte Surintha den Bau eines großen Stupa (Pagode). Dieser That Siang Tüm (andere laotische Aussprache: "That Siang Tüng") steht auf einem der Berge an der Südseite der Ebene von Müang Sing und gilt auch heute noch als Heiligtum der Lü (s. Abschnitt Bevölkerung) bis hinein nach China (Sipsong Panna). Alljährlich wird dort beim vollen Mond im November ein großes Tempelfest gefeiert.
Zum besseren Verständnis des Folgenden muss man wissen, dass noch bis zum Ende des 19. Jhdt. in SO-Asien Ländergrenzen weniger wichtig waren als Menschen, die man deportieren oder beherrschen konnte oder die zumindest tributpflichtig waren.
So gab es nach den Angaben in der Chronik von Nan (heute: Nordthailand) Anfang des 19. Jhdt. mehrere Deportationen (z.B. 1805/06 und 1812/13), in deren Verlauf jeweils bedeutende Teile der Bevölkerung von Müang Sing und anderen Orten in das Territorium von Nan, in die Gegend von Chiang Kham, verschleppt wurden.
Danach war die Ebene des Nam Sing jahrzehntelang nahezu menschenleer. Nur in den höher gelegenen Waldgebieten lebten Angehörige von Waldstämmen, die aus östlicher Richtung eingesickert waren. Möglicherweise erkannten sie den Herrscher von Nan als ihren Oberherrn an und belieferten ihn mit Waldprodukten, die dieser als Tribute nach Bangkok weiterleitete.
Damals existierte das schon vorher erwähnte Fürstentum
Chiang Khaeng, dessen historische Ursprünge sich im Dunkeln verlieren.
Seine Hauptstadt war bis in das zweite Drittel des 19. Jhdt.
Ban Chiang Khaeng (Xiangkheng).
Die nächste Hauptstadt danach war Müang Yu,
das erst Mitte des 19. Jhdt. gegründet worden war.
Die genaue Lokalisierung von Müang Yu
ist heute schwierig. Vermutlich lag es westlich
des Mekong, unweit des Zusammenflusses von Luai und Mekong.
Der Herrscher von Chiang Khaeng war Vasall des
birmanischen Königs, der ihm 1863/64
die Kontrolle über Müang Sing bestätigt hatte.
Hier überschnitten sich also die Einflussgebiete
Birmas und Thailands.
Zwei Karten über die politische Situation 1885 und heute [1996] zeigen recht gut die Zusammenhänge:
Durch den Rückhalt aus Ava (damals Hauptstadt Birmas) ermutigt, entsandte Kòng Tai, der Herrscher von Chiang Khaeng 1866/67 einige seiner Untertanen in das menschenleere Territorium von Müang Sing. Als er sogar die exklusive Ausbeute der Wälder Müang Sings beanspruchte, drohte der Herrscher von Nan, Chao Anantawòraritthidet, mit einer Strafexpedition. Falls Chiang Khaeng seine Provokationen nicht einstelle, werde man Truppen entsenden und die illegalen aus Chiang Khaeng stammenden Siedler nach Nan deportieren. Chiang Khaeng gab nach und zog sich zurück.
Doch bereits 1880 ist eine neue Besiedlung, und wieder durch eine Frau, nachweisbar. Im Tempel Ban Nam Dai (!) befindet sich ein Buddha, dessen Sockel in Tham-Schrift (Pali) die Widmung einer Frau trägt, Nang Bua Kham, der Herrscherin dieser Siedlung. Die Widmung weist auf das Jahr 1880 hin. Es ist nicht auszuschließen, dass Nang Bua Kham eine Nebenfrau des Cao Fa Sili Nò war, des Herrschers von Chiang Khaeng, die die Ebene Müang Sings als Vorhut besetzt hatte.
Cao Fa Sili Nò hatte nämlich die Absicht, die Hauptstadt Chiang Khaengs von Müang Yu nach Müang Sing zu verlegen. Der offizielle Grund war Landknappheit am alten Ort. Das eigentliche Motiv war aber offenbar geostrategischer Natur. Chiang Khaeng hatte aufgehört, Tributgeschenke nach Birma zu senden, nachdem in Ava nach König Mindons Tod ein blutiger Erbfolgestreit ausgebrochen war. Die Verlegung des Herrschersitzes und die Evakuierung eines großen Teils der Bevölkerung nach Müang Sing schützte Chiang Khaeng besser vor einer birmanischen Strafexpedition.
Außerhalb der heutigen Nordecke Müang Sings wurde 1884 das Wat Hua Khua gegründet. Von ihm aus wurde das geeignete Gelände für die Gründung der neuen Stadt gesucht. Bereits 1887 war Müang Sing bezugsfertig. Mehr als 1.000 Untertanen wurden umgesiedelt.
Birma war zu Beginn der 1880er Jahre in Agonie und musste die Kontrolle über die Shan-Gebiete, zu denen auch Chiang Khaeng gehörte, aufgeben, was zu einem Machtvakuum in der Region führte.
Nan wartete zunächst in Ruhe die weitere Entwicklung ab und wehrte sich nicht gegen die Gründung Müang Sings.
Diese scheinbare Ruhe änderte sich jedoch schlagartig bereits 1885/86 mit der Eroberung Avas durch die Briten und durch einen Streit, den der Neffe des Herrschers von Chiang Khaeng mit seinem Onkel provozierte. Dieser Neffe war der Herrscher des Chiang Khaeng westlich benachbarten Chiang Tung. Beide Ereignisse führten zu ernsten Sicherheitsbedenken in Bangkok und in Nan. Im Jahre 1889 entschloss man sich zu einer bewaffneten Intervention, um Sili Nòs Sicherheit zu schützen, wie es offiziell hieß. Tatsächlich ging es Siam um die Durchsetzung des territiorialen Anspruchs auf Müang Sing.
Cao Fa Sili Nò erkannte König Chulalongkorn von Siam als seinen Oberherrn an.
Wie unsicher aber der Status von Müang Sing war, zeigten einige Jahre später die Geheimverhandlungen zwischen England und Frankreich um die Gründung eines Pufferstaates am oberen Mekong, dessen administratives Zentrum Müang Sing sein sollte. Als die Verhandlungen 1895 scheiterten, wurde im folgenden Jahr der Verlauf des Mekong nördlich von Chiang Saeng (heute Thailand) als Grenze zwischen britischem und französischem Kolonialgebiet in SO-Asien definiert. Der östlich des Mekong gelegene Teil von Chiang Khaeng, d.h. Müang Sing, fiel 1895/96 an das französische Einflussgebiet (später Protektorat Luang Prabang).